Moin, Findorff ! Mein Name ist Pippi Langstrumpf. Heute schreibe ich mal die Kolumne, denn es geht um Selbstermächtigung. Dafür bin ich die Expertin. Denn wie ihr wisst: »Ich mach‘ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt !« Selbstermächtigung – das klingt nach einem sehr langen Wort, das bestimmt schwer an die Schultafel zu schreiben wäre. Aber eigentlich ist es ganz einfach. Es bedeutet, dass man sich selbst die Erlaubnis gibt, das eigene Leben so zu gestalten, dass es zu einem passt. So wie ich meine Villa als kunterbuntes Bremer Reihenhaus eingerichtet habe, mit einem Auto auf dem Gehweg und Gerümpel in der Garage. Manche schütteln da den Kopf und sagen: »Das geht doch nicht !« Aber warum eigentlich nicht ? Wer bestimmt das ?
Die meisten Menschen sind so sehr daran gewöhnt, dass andere für sie entscheiden, dass sie gar nicht merken, wie viel Macht sie selbst haben. Sie gehen arbeiten, weil »man das eben so macht«. Sie tragen Kleidung, die »sich gehört«. Sie sagen Sätze wie »Das darf ich doch nicht« und »So gehört sich das«. Aber ich frage: Für wen gehört es sich ? Für die NachbarInnen ? Für irgendeinen unsichtbaren Rat von Erwachsenen, der im Geheimen festlegt, was richtig und falsch ist ? Ich glaube, viele Menschen haben vergessen, dass Regeln eigentlich nur Vorschläge sind, die man prüfen kann: Helfen sie mir ? Oder engen sie mich bloß ein ?
Selbstermächtigung heißt, seine eigenen Antworten zu finden.
Ich weiß, nicht jeder hat eine Kiste voller Goldstücke wie ich. Aber Selbstermächtigung hängt gar nicht an Geld. Sie hängt an Mut. Mut, sich selbst ernst zu nehmen. Mut, seine eigenen Gedanken nicht kleiner zu machen als die der anderen. Mut, den eigenen Weg zu gehen, auch wenn er nicht regelkonform aussieht.
Natürlich sagen die Leute: »Aber Pippi, irgendwann musst du dich doch anpassen !« Ich finde: Warum sollte ich ? Es gibt genug angepasste Leute. Was fehlt, sind Menschen, die sich trauen, die Spielräume für sich zu reklamieren, die sie brauchen. Selbstermächtigung ist ein bisschen so wie das Starksein, das ich habe: Niemand hat es mir gegeben, ich hab’s einfach ausprobiert – und gemerkt, dass ich stärker bin, als ich und andere dachten. Ganz wichtig ist: Man darf sich die Erlaubnis selbst geben. Nicht warten, bis irgendein Erwachsener, irgendeine Chefin oder irgendeine Gesellschaft sagt: »Jetzt darfst du !« Wer wartet, verpasst das Leben.
Aber Moment mal: Ich habe schon oft gehört, dass ich ein Vorbild für Selbstermächtigung sei. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt, bestimme meine Regeln selbst und lasse mir von niemandem dreinreden. Aber wisst ihr was ? Ganz so einfach ist das nicht.
Denn wenn jede und jeder nur noch macht, was er oder sie will, dann kracht es ganz schön. Stellt euch mal vor, ich würde mitten in der Nacht anfangen, mit meinem Mercedes-Benz C63 AMG durch die Straßen zu rasen – für mich ein herrlicher Spaß ! Aber für die NachbarInnen ? Ein Albtraum. Selbstermächtigung hört also da auf, wo sie andere verletzt. Das vergessen viele, die immer nur von Freiheit reden.
Auch ich, so stark und unabhängig wie ich auch bin, weiß jetzt in meinem Erwachsensein: Manchmal ist es gut, wenn andere mir widersprechen. Wenn Tommy und Annika zum Beispiel die
Stirn runzeln und sagen: »Pippi, meinst du nicht, das ist ein bisschen heftig ?« – dann halte ich kurz inne. Nicht immer, aber immer öfter. Weil ich gemerkt habe: Zu viel Selbstermächtigung kann auch heißen, dass man blind wird für die Konsequenzen.
Manche Leute verwechseln Selbstermächtigung nämlich mit Egoismus. Sie sagen: »Ich nehme mir, was mir zusteht, ich höre nur auf mich.« Aber Selbstermächtigung ohne Verantwortung ist wie mein Pferd »Kleiner Onkel« ohne Zügel: Es rennt los, trampelt alles nieder und merkt es nicht einmal. Außerdem: Nicht alle haben die gleichen Voraussetzungen wie ich. Ich habe ein Bremer Reihenhaus, zwei Autos und eine Kiste Goldstücke. Das macht es leicht, »selbstermächtigt« durch das Leben zu gehen.
Und manchmal frage ich mich: Ist es wirklich Selbstermächtigung, wenn man nur gegen alles ist? Wenn man einfach trotzig das Gegenteil macht von dem, was erwartet wird ? Oder ist das auch nur eine Art, von anderen bestimmt zu werden – nämlich durch Abgrenzung ? Vielleicht ist wahre Selbstermächtigung viel schwieriger: einen eigenen Weg finden, der nicht nur »anders« ist, sondern auch sinnvoll. Ich will nicht sagen, dass Selbstermächtigung schlecht ist. Sie ist wunderbar – wenn sie gepaart ist mit Achtsamkeit, mit Verantwortung, mit Rücksicht. Wenn sie nicht nur »ich« meint, sondern auch »wir«. Sonst verwandelt sie sich in Selbstüberschätzung. Vielleicht ist das der wichtigste Punkt: Selbstermächtigung darf kein Freifahrtschein sein, alles durchzusetzen, was einem gerade gefällt. Sie sollte eher heißen: Ich nehme meine Stärke ernst, aber ich sehe auch, wie meine Stärke auf andere wirkt.
In diesem Sinne mache ich mir jetzt Gedanken, ob es richtig ist, dass ich den Anspruch habe, mein Auto unmittelbar vor meinem Haus direkt auf dem Gehweg zu parken, dass FußgängerInnen nicht durchkommen und dass die Rettungssicherheit gefährdet ist, weil die Feuerwehr nicht mehr in unserer Straße fahren kann.
Ich mache mir Gedanken, ob ich bei anderen, die auf »meinem« Parkplatz stehen, die Luft aus den Reifen ihrer Autos lasse oder eigene Poller setze. Ich denke nicht, dass ich all sowas tun werde. Ich höre lieber darauf, bevor Tommy und Annika zu mir sagen: »Pippi, jetzt reicht’s ! « Denn Selbstermächtigung bedeutet nicht, allein zu sein. Sie bedeutet, für sich bewusst zu handeln – und manchmal auch bewusst zurückzutreten.
In diesem Sinne reite ich jetzt durch Findorff und besuche den Herrn Innensenator im baldigen Ruhestand auf einen Schnaps.
Illustration: MMirjana, www.shutterstock.com
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