DR. Gabriele Junkers ÜBER EINSAMKEIT AN DEN FESTTAGEN


Weihnachten wird als ›Fest der Liebe‹ propagiert.

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Dr. Gabriele Junkers, Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin, und Supervisorin ist seit 1986 in der Praxis in Bremen niedergelassen. Seit vielen Jahren bildet sie PsychoanalytikerInnen und PsychotherapeutInnen in Theorie und Praxis aus. Als Gerontologin beriet sie viele Alteneinrichtungen und gab ihr 20-jähriges Erfahrungswissen, das sie beim Aufbau und der Leitung einer alterspsychiatrischen Rehabilitationsstation im ZKH Ost gesammelt hatte, weiter. Sie war darüber hinaus als Organisationsberaterin z.B. in der Beratung von Familienbetrieben bei der Übergabe an die folgende Generation tätig. Sie veröffentlichte in verschiedenen Fachzeitschriften zum Thema Psychoanalyse, Psychotherapie sowie dem Älterwerden und verfasste diverse Bücher. In den mehr als 30 Jahren ihrer erfolgreichen Berufslaufbahn begleitete Dr. Gabriele Junkers eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen sowie Institutionen in ihrem Veränderungsprozess. Dr. Gabriele Junkers ist in privater Praxis und der Ausbildung weiterhin aktiv. www.gabrielejunkers.de

 


Frau Dr. Junkers, in einem Schlager aus den Siebzigerjahren heißt es »Einsamkeit hat viele

Namen«. Ist Einsamkeit mehr als Alleinsein ?

 

Alleinsein bedeutet das konkrete Alleinsein, beispielsweise in einem Raum, auf einer Bühne oder ähnlich. Einsamkeit dagegen ist ein Empfinden, jemand drückt ein Gefühl aus, wenn er sagt: »Ich bin einsam.«

 

Einsam kann man sein, obgleich man von vielen Menschen umgeben ist. Erlebt eigentlich jeder Mensch Einsamkeit anders ? 

 

Da Einsamkeit ein Gefühl ausdrückt und Gefühle etwas sehr Individuelles sind, müssen wir sagen: Jemand, der sich einsam fühlt, versucht damit etwas zu erfassen, was sich zwar die meisten Menschen vorstellen können; wie es sich aber ganz persönlich anfühlt, ist für jeden Menschen unterschiedlich.

 

Die Weihnachtszeit naht. Weihnachten ist das emotionale Fest der Liebe und der Familie, an dem alle glücklich vereint sind. Soweit die Idealvorstellung. Kann dieses offensiv medial verbreitete Klischee von Weihnachten nicht auch problematisch sein, weil damit gesellschaftlich ein Erwartungsdruck aufgebaut wird, den manche Menschen nicht erfüllen können, weil sie an den Weihnachtstagen allein sind und sich vielleicht besonders einsam fühlen ?

 

Weihnachten ist ursprünglich ein religiöses Fest, dass in unserem Kulturkreis ausgeprägt zu einem Fest der Familie geworden ist und immer wieder als »Fest der Liebe« propagiert wird. Für jeden Menschen bedeutet »Familie« etwas anderes, je nachdem, welche Erfahrungen er gemacht hat. In manchen Familien lastet der Druck »Es muß gut werden.« stark auf den Mitgliedern, andere wissen nicht so recht etwas mit sich über die Feiertage anzufangen. Einige Menschen hängen sehr an dem, was sie sich unter einem Weihnachtsfest vorstellen und halten an früher erlebten Ritualen fest – und freuen sich, Verwandte wiedersehen zu können. Andere möchten eben genau dem entfliehen, ausbrechen, weil Weihnachten zum Beispiel mit schlechten, zum Teil schrecklichen Erinnerungen an Streitigkeiten, Alkoholexzesse und Ähnliches verknüpft ist. 

 

Es gibt in unserer Gesellschaft besonders in den Großstädten eine starke Tendenz zur Individualisierung. In Bremen leben 183.000 Menschen in Single-Haushalten. Das entspricht einem Anteil von 46 Prozent an allen Haushalten. Bremen liegt damit im Ranking der Großstädte bezogen auf Ein-Personen-Haushalte auf Platz acht. Haben wir es verlernt gemeinsam zu leben ?

 

Kultur und Lebens- und Familienstruktur haben sich in den letzten 80 Jahren sehr verändert. In den meisten jüngeren Familien arbeiten Vater und Mutter. Sie haben kaum Zeit und Möglichkeit, sich um die älteren Mitglieder zu kümmern oder gar diese zu pflegen. In Zeiten der Globalisierung steht den Kindern mehr als früher die Welt offen – viele Kinder finden ihre Arbeit in einer anderen Stadt oder sogar einem anderen Land. Der Wohnraum ist beengter und häufiger auf wenige Mitglieder ausgelegt. Wohngemeinschaften gibt es eher bei den jungen Menschen, seltener bei den Alten. Neu ist eine zögernde Tendenz, Wohnen im Alter vorausschauend gemeinsam zu planen. Mehrgenerationenprojekte scheinen jedoch nicht so gut zu klappen. Die vielfältigen Entwicklungen bringen es mit sich, dass wir drohen, das Leben in Gemeinschaft zu verlernen ! 

 

Sind in erster Linie Alleinstehende einsam oder können Menschen auch innerhalb der Familie oder etwa in einer Wohngemeinschaft einsam sein ?

 

Wie bereits angedeutet ist Alleinsein nicht unbedingt mit dem Gefühl der Einsamkeit verknüpft. Eine eigene Untersuchung unter älteren Menschen hat gezeigt, dass es eher bedeutsam ist, ob ich um jemanden weiß, mit dem ich etwas gemeinsam machen könnte, als die Tatsache, ob es auch wirklich passiert. Das Einsamkeitsempfinden ist häufig an eine innere Verlorenheit und innere Leere geknüpft. Es ist eben dieses Gefühl der inneren Leere, was unter Umständen zur Depression führen kann, also krank machen könnte.

 

Müssen wir unser Leben vielleicht völlig neu denken – und für unsere Zukunft gegen den Trend eine Offensive für neue, gemeinschaftliche Wohnformen und gegen eine weitere Vereinzelung starten ?

 

Wenn eine junge Mutter nicht mehr für ihren Säugling zur Verfügung steht, weil sie ohne Unterbrechung auf ihr Smartphone schaut, so wird dieses Kind zwar eine funktionierende Mutter erleben, die Grundbedürfnisse wie Nahrung und Schlafenlegen vermitteln kann, nicht aber dem Kind das Wichtigste im Leben beibringt, nämlich wie man in Kontakt tritt. Bei diesem Kind wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit später einmal ein Gefühl der inneren Leere und Ratlosigkeit hinsichtlich der Frage breitmachen, wie es mit anderen Menschen in Kontakt kommen kann. In vielen Familien setzt sich diese Kontaktlosigkeit in der Familie fort: Statt miteinander zu sprechen oder etwas miteinander zu tun, wird die Spielkonsole oder das Serien schauen gewählt, sodass es wieder eine »einsame Sache« ist. Schließlich macht die Sozialpolitik den großen Fehler, alle Unterstützung für Jugendorganisationen, in denen junge Menschen einen teilweisen Ersatz für Familie und Vorbilder finden könnten, zu streichen, sodass sie wieder allein auf sich zurückgeworfen sind.

 

Welche Rolle spielt heute das Internet ? 

 

Das Internet kann uns vorgaukeln, mit sehr vielen Menschen verbunden zu sein. Es ersetzt aber keine realen Kontakte. Es birgt die Gefahr, in der virtuellen Welt zu versinken, um dann in noch stärker empfundener Einsamkeit festzustellen: Ich bin allein. Ich kann meine Freunde nicht mit den Sinnen wahrnehmen, sie sind in den Computern, aber eben nicht nebenan. 

 


Wie will ich im Alter leben ?

 

Kann Einsamkeit auch positive Seiten haben ?

 

Oh ja, wenn Sie damit das Alleinsein meinen: Sich selbst Zeit zu schenken, mal lesen oder nachdenken zu können ist ein sehr wertvolles Gut, was häufig durch den empfundenen Druck, etwas mit anderen machen oder unternehmen zu müssen verdrängt wird. 

 

Wir leben immer länger. Werden dadurch noch mehr Menschen im Alter zwangsläufig immer einsamer ? 

 

Zunächst werden die heute 70- bis 90-Jährigen aufgrund der oben beschriebenen Veränderungen der Lebensbedingungen unter Umständen noch besser allein zurechtkommen, als später einmal die heute 30- bis 50-Jährigen. Niemand mag ans Alter denken, alle wollen »aktiv und jung« bleiben. Aber Vordenken und Vorsorge zahlt sich aus, nämlich sich rechtzeitig zu fragen: »Wie will ich im Alter leben ? Mit wem könnte ich darüber diskutieren oder gar Gemeinsames planen ?«

 

In Findorff hat die Sozialpädagogin Kerstin Schröck dankenswerterweise den »Single Kulturkreis Findorff« gegründet, um Menschen um die 50 für gemeinsame kulturelle Events zusammenzubringen. Man muss für eine gesellschaftliche Teilhabe über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, um beispielsweise ins Theater zu gehen. Bremen ist das Bundesland mit den meisten potenziell armen Menschen. Über 22 Prozent der BremerInnen sind armutsgefährdet. Ist Armut ein weiteres Einsamkeitsrisiko ? 

 

Die Hürde ist, dass viele ältere Menschen sich schämen, über Armut zu sprechen und sich auch deshalb teilweise zurückziehen. Aber es ist und bleibt ein Faktum: Armut ist ein Alters- und Frauenproblem. Früher gab es sehr viele Altentagesstätten, wo Einsame und Alleinlebende einen wichtigen Rückhalt gefunden haben. Leider hat sich die Politik gegen Zuschüsse für Kaffee entschieden. Ein Jammer, denn nur so haben Ältere weniger Angst, »mal Kaffeetrinken« zu gehen, anstatt sich von der Sorge zurückhalten zu lassen: »Was soll ich denn da sagen ?«

Älter werden heißt auch, dass vertraute Menschen um uns herum sterben. Es wird in der letzten Lebensphase einsamer um uns werden. Wie sollte man mit diesen Verlusten umgehen ?

Besonders diejenigen sind allein, die niemanden mehr haben: Keine Kinder, keine Familie, keinen Partner oder keine Partnerin. Die Angst greift um sich: »Wer hält mir einmal die Hand, wenn ich sterbe ?« Vielleicht wäre es sehr hilfreich, gerade für diese Gruppe Initiativen und Aktivitäten anzubieten. 

 

Denken wir positiv: Was kann man tun, um dem unguten Gefühl der Einsamkeit zu Weihnachten etwas entgegenzusetzen ?

 

So lange es die Gesundheit zulässt: aktiv bleiben, Gruppen und Kontakte aufsuchen ... Sie werden überrascht sein, wie viele dankbar für Ihre Initiative sind !

 

Interview: Mathias Rätsch, Foto: Martin Rospek, Interview erschienen in Ausgabe Nr. 12, 2019

 

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Foto © Martin Rospek